Jetzt, am Mittwoch, wird Günter Gall 75 Jahre alt und blickt auf eine 50 Jahre währende Karriere zurück. Mehr als 20 Platten-Veröffentlichungen, tausende Auftritte, Autofahrten zu Konzerten nach Norden und Süden, Osten und Westen und unzählige Begegnungen mit unterschiedlichsten Zuhörern und anderen Künstler liegen hinter ihm. „Wahnsinn, wie die Zeit vergeht“, sagt Günter Gall heute. „Wo sind bloß die Jahre geblieben?“
Aber am Ende ist Gall noch lange nicht. Auch mit Mitte 70 steht er rund 40 Mal pro Jahr auf der Bühne. Meist in kleine Sälen, Kirchen, Kapellen oder Museen vor 40, 50 Zuhörern. Seinen jungenhaften Charme hat er sich behalten, auch wenn Haare und Bart längst grau sind. „Natürlich zwickt und zwackt es mal bei mir. Aber mein Kardiologe hat mir erst kürzlich gesagt, ich sei topfit“, erzählt das Geburtstagskind und lacht dabei. Niederrheinischer Optimismus.
Gall ist in der Solvay-Siedlung an der Zollstraße in Ossenberg aufgewachsen. Heute würde man sagen: zwischen BMW-Logistikzentrum und Woodpower-Holzkraftwerk. Traumhaft sei es dort damals für Kinder gewesen. Im Buch „Galläppel“ hat er diese Zeit in der Siedlung, die immer kleiner wird und irgendwann ganz verschwinden wird, beschrieben. Günter Gall ist ein Liedermacher in der Tradition von Künstlern wie Liederjan oder Fiedel Michel.
Die politische Liedermacherei à la Franz-Josef Degenhardt oder Hannes Wader war nicht so sehr sein Ding, er stand dem Folk näher. So ist er mit dem Duo „Mulwerk“ zusammen mit dem Moerser Tom Gerstenberger eine Niederrhein-Ikone geworden. Plattdeutsche Texte über „Dä Hippelandexpress“ oder „Van Schereschlipp on andere Lüj“, dazu Musik, gespielt mit zwei Löffeln, Dulcimer und allerlei „Gedöns“ – das suchte damals weit und breit seinesgleichen. „Mit Mulwerk haben wir damals wirklich an jeder Milchkanne gespielt“, erinnert sich der Barde.
Die erfolgreichste Zeit hatte er dann von 1987 bis 1997 mit Günter Gall & Düwelskermes, wo der Sänger und Gitarrenspieler von hervorragenden Musikern begleitet wurde. 1986 fasste er dann auch den Entschluss, Berufsmusiker zu werden. Das war ohenhin das, was er immer gewollt hatte und bis heute will.
Als Schüler sei er grottenschlecht gewesen, erinnert er sich. Vom Amplonius-Gymnasium flog er herunter, absolvierte dann bei Solvay eine Lehre zum Chemielaboranten, was ihm auch keine Freude bereitete. Auf dem zweiten Bildungsweg holte er sein Abitur nach und studierte in Münster auf Lehramt. „22 Semester“, sagt er schmunzelnd. Auch das Referendariat absolvierte er noch, hatte das zweite Staatsexamen in der Tasche. „Aber mein Schulleiter hat damals zu mir gesagt: Günter, lass das mit der Schule und mach‘ besser Musik.“
Bald wurde die Literatur immer wichtiger für den Texter, Komponister, Musiker und Rezitator. Er ging mit Programmen, für die er Texte von Carl Michael Bellman, Erich Kästner, Erich Maria Remarque, Mascha Kaléko, Joachim Ringelnatz oder Fritz Grasshoff vertonte, auf Reisen. Seine CD „Soldaten-Leben“ wurde im Mai 2014 vom Fach-Magazin „Folker“ zur CD des Monats gewählt. Dieses Programm zur 100. Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war bundesweit sehr erfolgreich. Sein Lied für Hans Calmeyer war viele Monate auf Platz 2 der Liederbestenliste. 2017 spielten Gall und sein langjähriger Gitarrist Konstantin Vassiliev das Programm „Radlers Seligkeit“ mit Liedern, Instrumentals und Erzählungen zum 200. Jubiläum des Fahrrads.
Nun stehen seine eigenen Jubiläen im Mittelpunkt. 50 Jahre Bühne und 75 Jahre Leben – dazu hat Günter Gall das Album „…und reisen quer durch die Zeit“ herausgebracht. 18 Lieder sind drauf, die eine Hälfte davon sind neue Aufnahmen, die andere Klassiker aus 50 Jahren Schaffensphase. Die Lieder dieser Platte bilden auch den roten Faden seiner Konzerte, die er jetzt am Niederrhein spielt. Unter anderem hat er bereits in Baerl und Moers-Kapellen gespielt, bald tritt er auch in Rheinberg auf (siehe Info).
Seit 1984 lebt Günter Gall, Vater eines inzwischen 42-jährigen Sohnes und zweifacher Großvater, in Osnabrück. Die meiste Zeit davon mit seiner Lebensgefährtin Elisa, mit der er auch seinen Geburtstag verbringen wird. Zuweilen kommt er aber auch an den Niederrhein. Seine Schwester Petra Heinen wohnt mit Ehemann Mario in Millingen, eine andere Schwester in Rheinhausen.
Oft singt er über den Niederrhein, meist „op Platt“. „Plattdeutsch habe ich von meinen Großeltern gelernt“, sagt Günter Gall. Dass es den alten, beschaulichen, von Landwirtschaft geprägten Niederrhein aus seinen Liedern in der Form heute nicht mehr gibt, ist ihm bewusst. Aber gerade das, so sagt er, sei Ansporn für ihn, diese Lieder zu singen und zu erhalten. Er hofft, dass er und seine Gitarre noch ein paar Jahre gesund und munter durch die Gegend fahren und die Leue unterhalten können.
Von Uwe Plien